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Turner-Syndrom, Hormone und Sprachgebrauch

Turner-Syndrom, Hormone und Sprachgebrauch

Meine Tochter hat sich einen umfangreichen Wortschatz angeeignet. Sie nutzt verstärkt ihre verbalen Kompetenzen als Schlüssel zur Welt und zum Verstehen. Eben darum und mit dem Bewusstsein, dass Sprache unser Denken formt und umgekehrt, finde ich die umsichtige Ausdrucksweise im medizinischen Bereich bedeutend. Wenn es um Monosomie X, Turner-Syndrom, Körperfunktionen, Hormone, Indikationen, Werte, die ärztlichen Erläuterungen und Aufklärungsinformationen geht, braucht es einen Perspektivwechsel und Umformulierungen im Sprachgebrauch.

Beim Endokrinologikum

Im Wartebereich lag ein Kinderbuch, was mein Interesse weckte. Es widmet sich dem Themenbereich „Wachstumshormone“. Ich war neugierig. Meine Tochter nicht so. Verständlich angesichts ihres Alters und auch der Tatsache, dass sie seit Jahren täglich selbstständig injiziert. Das Kinderbuch „Maxi, Wühlbert und die Wachstumskrümel“ (von einem Pharmaunternehmen) richtet sich nämlich an jüngere Kinder, die mit dem Spritzen von Wachstumshormonen beginnen. Relativ allgemein und ansatzweise wird die Notwendigkeit bzw. der Nutzen der Hormone bezogen auf die Normanpassung verdeutlicht. Nebenbei schwingt mit, dass es sich darum lohnt die „Unannehmlichkeiten“ bei der Gabe (minimal verbunden mit dem Eingehen auf Spritzenangst) zu händeln. Von der Geschichte her vermittelt ein Maulwurf dem jungen Baum Maxi, wie er groß und stark wie die anderen Bäume werden kann und ist dann als zielbewusster Unterstützer tätig. Mit Erfolg. Im Netz fand ich keine weiteren Informationen zu dem Kinderbuch. Nur eine Erwähnung im Zusammenhang mit der Nationalen Konferenz zu Seltenen Erkrankungen 2021. Ich dachte noch viel über Maulwurf und Baum nach. Die Tochter war in ihr eigenes Buch vertieft, als sie aufgerufen wurde. Im Gespräch mit dem Arzt ging es neben der Kontrolle dann, um die Östrogen-/Gestagensubstitution.

Das aufklärende Kinderbuch "Maxi, Wühlbert und die Wachstumskrümel" auf einem Tisch stehend

Sprachwirkung

Mit der Ausdrucksweise in medizinischen Kontexten, wie an diesem Tag im Gespräch mit dem Arzt oder auch allgemein in der Fachliteratur, tue ich mich schwer. Im Bereich der Fachsprache des Gesundheitswesens bin ich nicht zu Hause. Ich erkenne an, dass es in diesem System eine Form der (sprachlichen) Abgrenzung braucht, um einen Sachverhalt unmissverständlich zu benennen, Indikationen abzuleiten, einen präzisen Austausch zu gestalten und ganz simpel Unterstützungen zu veranlassen. Hinter der Terminologie steckt Fachwissen, was ich nicht besitze. Gut. Wenn wir dahingegen Alltagssprache nutzen, verwenden wir gleichzeitig immer Vorstellungen, die damit verknüpft sind. Beim Informieren, Erklären oder Nachlesen, wenn Gesundheitspersonal mit einem redet oder wir Aufklärungstexte durchgehen, vermischen sich diese Sprachgebrauchsbereiche.

Sprache beeinflusst unsere Wahrnehmung. Wenn es bei diagnostizierter Monosomie X aka dem Ullrich-Turner-Syndrom, um die Hormongabe geht, empfinde ich die Wortwahl genau darum als schwierig. Es geht zum einen um die „Behandlung des Kleinwuchses“ mit dem Ziel einer „normalen“ Körpergröße. Zum anderen wird die große Bedeutung der psychosexuellen Entwicklung, „richtige Weiblichkeit“ und das „vollwertige Frau-Sein“ thematisiert. Weil Sprache wirkt und mitmeint: Wenn „etwas“ behandlungsbedürftig ist, nicht „normal“, hängt da auch eine negative Konnotation dran. Es wird für mich auch immer eine wertende Botschaft mit transportiert.

Rund um die Gabe von Hormonen erscheint die Anpassung an Andere wichtig und das Erreichen eines (Schönheits-)Ideals bedeutend. Bei der Injizierung von Wachstumshormonen liegt der Fokus auf dem Zugewinn von Zentimetern. Ohne auf das Themenfeld der numerischen Aberrationen der Geschlechtschromosomen aka Intersexualität oder Geschlechtsidentität einzugehen, wird bei der Östrogentherapie eine Normalisierung der Pubertätsentwicklung angestrebt.

Es wird suggeriert „Du bist nicht richtig“. Ein „Makel“ oder „Mangel“ muss kompensiert oder korrigiert werden. Und da sträubt sich in mir alles. Wollte ich nie und will ich meiner Tochter nicht vermitteln. Natürlich beeinflusst die körperliche Entwicklung, die „behandelt“ wird, die Lebensqualität. Das möchte ich gar nicht bestreiten. Ich denke da an Auswirkungen, wie die Erreichbarkeit von Dingen, an die Auswahl von Kleidung oder die Wahrnehmung von Außen. „Klein“ wird oft mit „jung“ assoziiert und es kann zu einer Form der Unterschätzung kommen. Das Aussehen wirkt sich auf die Selbstwahrnehmung aus. Und meine Tochter spritzt Wachstumshormone und nimmt aktuell zwei Tropfen Estradiolvalerat.

Hormonwirkung

Was mich stört, ist der beschriebene Fokus bei der Aufklärung und die Zielformulierung bei der Hormongabe. Warum kann nicht der unterstützende Effekt auf das Zusammenspiel der Körperfunktionen betont werden? Wachstumshormone sind wichtig in Bezug auf die Muskulatur und den Stoffwechsel, was ein Gefühl von Agilität und Energie boostet. Und auch Östrogene dienen nicht nur der Vorbeugung von Osteoporose. Sie unterstützen die Blasenkontrolle und wirken aufs Herz und deren Durchblutung. Nicht grade unbedeutend für das alltägliche Leben. Warum kann nicht klar unterstrichen werden, dass das Ziel des Vorgehens die Steigerung des Wohlbefindens ist und nicht die Angleichung an ein „Normal“?

Mich stört, dass bei der Vermischung des Sprachgebrauchs die Wirkung der Begrifflichkeit bzw. die genutzt Wortwahl unreflektiert bleibt. Mir fehlt beim Übergang von Fach- zur Alltagssprache ganz doll Sensibilität und Feingefühl. Besonders, wenn es junge Kinder betrifft und Eltern, die Entscheidungen für oder gegen Spritzen / Tropfen treffen müssen. Und dieses anfangs erwähnte Kinderbuch trägt weiter, was ich eben in Frage stelle. Schade. Grundsätzlich finde ich nämlich unterstützenden Lesestoff für die ganze Familie, der auf- und erklärt, ins Thema hilft oder motivierend bestärkt, sehr wertvoll. Informationsmaterial, ob in digitaler oder gedruckter Art, egal für welche Altersgruppen, und der persönliche Austausch bietet die Chance wichtige Inhalte, Zusammenhänge bei einem medizinischen Sachverhalt und den Nutzen für das Individuum x-mal anders zu formulieren und zu transportieren. Doch die Macht der Sprache wird scheinbar nicht beachtet. Dabei ist sie eben von Bedeutung. Um zu verstehen. Um entscheidungs- und handlungsfähig zu sein.

Ganz oft werden gute sprachliche Fähigkeiten im Zusammenhang mit der Monosomie X aka dem Turner-Syndrom erwähnt. Doch im Rahmen der Information und im Bereich der „Behandlung“ bleibt dies unbeachtet. Die bestehende Wortwahl macht für mich das Management der Gesundheitsunterstützung beim Aufwachsen meines Kindes schwieriger. Müsste nicht so sein. Im Sprachgebrauch bei dieser Schnittstelle stecken viele Möglichkeiten, um das emotionale und psychische Wohlbefinden mit zu berücksichtigen, was eben nicht ausschließlich durch den Hormonboost für Wachstum, Brustentwicklung und Menstruation bedingt wird. Schon dezentes Umformulieren könnt einen enormen Unterschied machen. Für Glückshormone sorgen…

Eure Anne


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