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Abschied vom Traumberuf

Abschied vom Traumberuf

Da steh ich nun an einem Schlusspunkt und schließe ein Kapitel. Mit zittriger Hand habe ich meine Kündigung übergeben. In den letzten Jahren gestaltete, begleitete und dokumentierte ich für und mit Kindergartenkindern ästhetische, kreative und künstlerische Prozesse. Von Herzen gerne. Aus gesundheitlichen Gründen verabschiede ich mich jetzt von meinem Traumberuf.

Von Anfang an

blauer Regenbogen aus Wolle vor Draht

Nach der zehnten Klasse entschied ich mich für den sozialen Bereich. Machte Fachabi. Studierte an einer Fachhochschule. Arbeitete in Kitas. Wurde eine Fachkraft für reggio-inspiriertes Lernen. Ich bekam Kinder und nutzte Ideen aus den Krabbelgruppen für meine pädagogische Arbeit im Nestbereich. Im Herbst 2017 nahm ich an der Studienfahrt in die italienische Stadt Reggio Emilia teil. Davon inspiriert entwickelte sich mein Traumberuf. Mit dem Vertrauen der Kitaleiterin wurde ich ganz ohne offizielle Berufsbezeichnung und gruppenunabhängig eine zusätzliche Fachkraft im Kindergarten mit 150 Kindern und grob zusammengefasst wurde ästhetische und kreativ-künstlerische Bildung meine Aufgabe.

Wenn Kinder von sinnlichen Wahrnehmungen auf eine besondere Art berührt werden, wenn Emotionen damit verbunden sind, wenn die Erfahrung sich vom Alltäglichen unterscheidet und sie dadurch animiert werden mit den Phänomenen/Materialien/Geschichten etc., dem was verwundert, staunen lässt, irritiert etc., zu agieren und kreativ sowie gestaltend damit zu handeln, finden ästhetische Bildungsprozesse statt. Es geht um sinnliche Eindrücke, die Beschäftigung sowie Auseinandersetzung, das Entwickeln von kreativen Ideen und die Lust am Ausdruck, wobei sich das Welt- und Selbstverständnis erweitert.

Ich war in diesem Sinne vorbereitende, initiierend, begleitend, nachbereitend und dokumentierend tätig im Kindergarten. Für und mit Kindern verschiedenen Alters. In den elf Gruppen oder mit kleineren Kindergruppen. In der Wunderwerkstatt (ein mehrfunktionaler Raum im Gebäude mit besonderem Malortbereich), deren Entstehung ich mit Freude verfolgte und gestaltete. Was habe ich also während meiner Arbeitszeit gemacht?

Von der Theorie zur Praxis

Ich war „Kunst-Anne“. Pinnte Blätter an die Wand und stellt Farben bereit. Zeigte, dass Pinsel keine Klobürsten sind. Dass Mensch auch mit Fliegenklatschen, Federn, Blumen oder Spielzeugautos Spuren hinterlassen kann. Ich löste Papierschnipsel in Wasser auf. Ließ die Kinder matschen. Stellt Blüten dazu. Staunte, was geschah. Ich achtete auf Finger während Nägel in Holz gehauen wurden. Rollte Wolle auf. Ich umwickelte Pappstreifen und spannte einen Regenbogen im Treppenhaus. Ich agierte mit Licht und Schatten. Trug den Polylux durchs Haus. Flog in den Weltraum. Stellte den Leuchtkasten auf einen Tisch, der zum Raketenfenster wurde, und bestaunte die Aussicht, die sich vor meinen Augen bewegte. Ich schuf mit den Kindern einen leuchtenden Klangbaum. Half bei der Konstruktion von Robotern. Baute ein Häuschen aus Pappe, in dem 6 Kinder stehen und dekorieren konnten.

Ich half bei der Organisation von Aktionen. Arbeitete mit Begeisterung mit meiner musikalischen Kollegin zusammen. Zusammen waren wir „MUT-ICH“ und ließen es leuchten. Ich kooperierte mit der wundervollen Kitafee (der Hauswirtschaftskraft) und gruselte mich vor dem Kitageist. Bei Dienstberatungen, Fortbildungen und Ausflügen war ich dabei. Besuchte die neue Nationalgalerie und fuhr auf einem Müllauto mit. Ich sprach über pädagogische Themen. Schrieb Anregungen für Familien auf. Tauschte mich mit Kolleg:innen aus. Erlebte die Entwicklung von Kindern. Bestaunte erste Punkte und Striche sowie Zahnlücken. Besonders stolz bin ich darauf, dass mich ein Junge für seine Sternstunde auswählte. Ich lernte neue Menschen kennen und verabschiedete mich. Ich demonstrierte. Löste Kolleg:innen zur Pause aus.

Ich gab Scheren heraus. Sammelte die übersehenen Schnipsel ein. Organisierte Kleber. Spitze in lustiger Runde Stifte an. Hörte den Kindern zu. Ich zerkleinerte Kreide und koordinierte den Wassertransport. Ging zur Hand bei der Entstehung von Naturpinseln und malte Bilder mit flüssiger Kreide. Ich spielte im Sand. Sammelte Blätter, Steine, Stöcke und Kastanien mit Kindern, die weiterverwendet wurden. Ich schüttete zwanzig Tüten mit Linsen in ein Planschbecken. Versteckte Schätze. Brachte Schüsseln, Dosen und Löffel. Ich fütterte Dinos. Betreute einen Vulkanausbruch. Ich trank imaginären Kaffe. Legte Obstgesichter. Dem Wunsch der Kinder entsprechend holte ich Zutaten für Schleim und ließ sie machen. Ich knete Salzteig. Feuchtete Ton an. Beschäftigte mich mit den Inhaltsstoffen von Knete.

Ich wählte besondere Bilder- und Kinderbücher aus und las Geschichten vor. Philosophierte mit Kindern und griff ihre Ideen auf. Lauschte Erzählungen. Alberte herum. Lachte über Grimassen. Trocknete Tränen. Half bei Konflikten. Sorgte für eine Rückzugsmöglichkeit außerhalb des Gruppengeschehens. Ich liebte den Flow. Ich informierte mich. Sammelte neue Impulse. Bereitete vor. Arrangierte Loose Parts. Betrachtete gelegte Muster. Ließ mir Geschaffenes zeigen. Ermutigte. Ich räumte auf. Wischte Pfützen weg. Ordnete Materialien. Dekorierte den Eingangsbereich. Ich fotografierte. Notierte Gesagtes. Schrieb Lerngeschichten für die Portfolios. Präsentierte Prozesse und Kunstwerke. Immer und immer wieder machte ich deutlich, dass es nicht um Schönheit, Lob und fertige Produkte sondern um das Erleben im Inneren und Äußeren geht. 

Oberkörper vom Papproboter von einem Polylux angestrahlt, dessen Fläche mit bunten Formen belegt wurde

Am Ende der Abschied

Das Aufgeführte und noch so viel mehr habe ich von Herzen gerne gemacht. Mit und trotz Belastungsfaktoren wie Lärm, fehlendem und wechselndem Personal, was zu sich verändernden Strukturen führt, und vielfältigen sowie vielschichtigen Emotionen und Themen, auf die eingegangen werden muss. Ich bin überzeugt davon, dass Kindergärten & Co. wundervolle Orte sein können, durch die und an denen Kinder und Familien begleitet und unterstützt werden. Dass die Bedeutung von ästhetisch-kreativer Bildung enorm und zukunftsrelevant ist. Dass ich einen Traumberuf hatte. Doch Kitas sind am Limit. Und ich auch.

Aus gesundheitlichen, persönlichen und Energiegründen verabschiede ich mich von meiner bisherigen Erwerbsarbeit. Das ist traurig. Die Entscheidung fiel mir nicht leicht. Da die Berufswahl, das Gelernte und die ausgeübte Tätigkeit identitätsbildende Faktoren für mich waren, verabschiede ich mich an dieser Stelle auch von einer Version meines Seins. Bereits Kindergartenkinder werden gefragt, was sie werden wohl. Damals wie heute find ich diese Frage schwierig. Ich beschäftige mich nun vielmehr damit, was ich lernen möchte, welche Themen mich interessieren, wo meine Stärken liegen, wie ich zukünftig arbeiten möchte. Nach dem Abschied folgt der Neuanfang. So dann…

Wie vielen pädagogischen Fachkräften geht es wohl wie mir? Wie viele werden sich auch verabschieden von ihrem einstigen Traumberuf?

Eure Anne


ErzieherinIchseinKitakriseTraumberufVeränderung

Kommentare

  1. avatarKarsten Uecker

    Ich habe sehr sehr gern mit dir gearbeitet. Ich bin gern in deiner Nähe gewesen und hab deine professionelle Meinung immer geschätzt

    1. avatarAnne

      Vielen, vielen Dank für deine Worte. Das bedeutet mir viel. Mir ging es mit dir ebenso. Und ich bin dankbar dafür, dass ich unwissenderweise meine letztes Angebot bei bzw. mit euch gestalten konnte. Alles Liebe für dich.
      Anne