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mehr als eine Diagnose – ein persönliches Kommentar

mehr als eine Diagnose – ein persönliches Kommentar

Diagnosen – Zuordnung von Kennzeichen oder Symptomen zu einer Kategorie oder eben einem Krankheitsbild. Feststellung, Beurteilung und Benennung. Wichtig. Für die passende Unterstützung. Nützlich. Für die Abrechnung im Gesundheitssystem. Hilfreich. Für das eigene Verständnis. Hinderlich. Bei Etikettierung, die (andere) Möglichkeiten begrenzt. Hemmend. Wenn das Gefühl der Selbstwirksamkeit und der Selbstwert eingeschränkt wird. Problematisch. Bei Stigmatisierung. Weil ein Mensch mehr ist als eine Diagnose.

Bei diesem Dualismus stellt sich mir die Frage: Welche Macht und Wirkung hat eine Diagnose?

Wie sich die Diagnose „Monosomie X“ bzw. (Ullrich-)Turner-Syndrom auf den Gesundheitszustand, das Erscheinungsbild, Lebensbereiche und das subjektive Wohlbefinden auswirkt, ist sehr unterschiedlich und individuell. „In Schubladen zu packen“ ist schwierig. Pauschalisierung kann fatal sein. Mit dieser Diagnose zu leben bedeutet für mich kontrovers zwischen Normalität und seltener Erkrankung zu leben. Je nachdem. Je nach Kontext. Je nach Bewertungsmaßstab. Je nach Schubladendenken. Das zeigte auch ein Kommentar, was HIER zu lesen ist. Was mich beschäftigt und getroffen hat.

Mit meinen Bedenken, mit dem Bewusstsein für Vor- und Nachteile von der Diagnosestellung „(Ullrich-) Turner-Syndrom“ und den „Bauchschmerzen“ bezüglich problembehafteter Generalisierung bin ich nicht allein. Vielen Dank an die Schreiberin, dass ich ihren persönlichen Kommentar dazu hier teilen darf. Ich übergebe also das Wort:

mehr als eine Diagnose

Was, wenn dir eingeredet wird, von klein auf, dass Anderssein gleich Leiden ist? Was, wenn andere deine vermeintlichen Grenzen schon abgesteckt haben. Noch bevor du selbst deine Fühler vorsichtig ausstrecken, eigene Fehler machen, reifen durftest?

Zwölf Jahre lang habe ich bessere wie schlechtere Tage durchlebt. So wie jedes andere Kind auch. Als generell leidend oder defizitär wahrgenommen habe ich mich dabei nie. Was eine Diagnose nicht alles verändern kann. Ich war fünfzehn, als ich anfing, in mich zu gehen, um nach Symptomen und Defiziten zu fahnden. Selbstverständlich wurde ich an der ein oder anderen Stelle fündig. Und gleichzeitig fragte ich mich ehrlich, ob ich „da nicht was verdränge“. Weil all das Leiden, das mir suggeriert wurde, sich so gar nicht einstellen wollte.

Wer sich bis zum Alter von fünfzehn nicht hat fein- säuberlich in eine Schublade stecken, nicht die Flügel stutzen lassen, der fängt vermutlich auch später nicht mehr damit an. Und doch tuen sie weh. Jedes Mal aufs Neue. Diese kühlen Debatten über die Lebensqualität und angebliche Beschränktheit „so eines Kindes wie mir“. Die Vorurteile und die Ignoranz bestimmter Menschen.

Es gibt keine vollkommene „Gesundheit“.

Aber reden wir über Lebensqualität – denn was bringt es, das Thema unter den Tisch zu kehren – und beginnen wir mit Lektion eins des Kurses „Psychologie und Soziologie für Mediziner“. Diese wäre: Es gibt keine vollkommene „Gesundheit“. Sondern stattdessen ein Kontinuum größerer und kleinerer Einschränkungen. Für jeden von uns. Eine gute Lebensqualität hat man dann, wenn man mit den eigenen Einschränkungen vernünftig umgehen kann. So einfach. In diesem Sinne bin ich mit meiner Lebensqualität relativ zufrieden. Solange ich mein Leben selbstbestimmt führen, ab und an ein gutes Buch oder einen Sonnenuntergang genießen kann. 

Ich bin die Letzte, die bestimmte Realitäten bei bestimmten Diagnosen verleugnet. Ich weiß genauso, dass ich auch für jemanden mit UTS viel Glück gehabt habe. Dies ist folglich nur meine persönliche Geschichte. Und dennoch. Dennoch hoffe ich, dass ich euch ein wenig die Augen öffnen konnte.

Warum wird ausgerechnet ein Geschlechtschromosom verwendet, um uns so einfach in die Kategorien „krank“ und „leidend“ zu packen? Warum scheinen manche Menschen zu glauben, dass 46 strukturell unauffällige Chromosomen ein gesundes Kind garantieren? Die Realität ist, wie immer, komplizierter.

Jeder kämpft, jeder fällt. Und manche von uns stehen danach wieder auf, der Wille ungebrochen. Das nennt sich dann „Resilienz“. Nicht jeden Stein kann man seinem Kind aus dem Weg räumen. So gerne man dies sicherlich auch tun würde. Denn Leiden und Krankheit sind eine unabänderliche Realität des Lebens. Garantien gibt es ohnehin für keinen von uns.

Und diese Welt braucht dringend die Personen, die anders denken, anders fühlen.

Verdränge ich etwas, rede ich mir etwas schön? Mittlerweile beschäftigt mich die Antwort auf diese Frage lange nicht mehr so sehr wie früher. Ich mache es ganz einfach so, wie viele andere Menschen auch. Ja, ich versuche schon, einige langfristig vernünftige Entscheidungen zu treffen. Und nicht ganz die Augen vor möglichen Problemen zu verschließen. Mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. 

Aber irgendwo hört es auf. Irgendwann bringen mehr Sorge, und Vorsorge, und Selbstmittleid kein besseres Outcome. Sondern werden zu einer reinen Belastung.

„Pain is inevitable, suffering is optional“

Und so versuche ich ganz einfach, jeden Tag auszukosten, an dem sich kein riesiges Problem von selbst in den Vordergrund drängt. 

Wer nach Einschränkungen und Beschwerden sucht, wird diese garantiert finden. Bei jedem. 

Aber reduziert bei alledem eine Person nicht auf ihre Gene, oder Diagnosen. Vergesst nicht die Erfolge, den freien Geist. Und nicht das Tanzen im Regen. Denn, mehr als irgendeine Diagnose, machen diese Dinge uns aus. 

Schubladendenken

Wir packen in Schubladen in unserem Kopf und beschriften sie, um unser Denken zu ordnen und zu sortieren. Um uns zu orientieren. Es vereinfacht unser denken. Was sehr nützlich ist. Problematisch wird es, wenn wir unsere „Schubladen“ nie aufräumen und keine Zwischenablage haben, die ein Inne halten sowie Um-oder Neusortieren ermöglicht. Wenn wir dogmatisch sind und das System nie in Frage stellen.

Bei vielen Diagnosen lässt sich die Schublade leicht beschriften und mit Informationen füllen. Da wir Menschen sind, packen wir nicht nur sachliche Fakten hinein. Klischees, Vorurteile, Stereotype, generalisierte Emotionen etc kommen dazu oder dann eben heraus.

Machen wir uns bewusst, dass jeder Mensch, in mehr als eine Schublade passt. Dass ein Mensch mehr ist, ihn mehr ausmacht als seine Schublade ihm zu schreibt. Uns alle macht mehr als eine Sache, mehr als eine Diagnose aus. Subjektives Empfinden ist eben dies. Subjektiv. Machen wir uns bewusst, dass Dualismus, Vielfalt und Pluralität vorherrschen. Nutzen wir lieber unsere Möglichkeit und Fähigkeit neugierig und offen zu sein, bewerten x-mal anders, denken x-mal anders und nutzen die Vorteile.

Was denkst du?

Eure Anne nebst Schreiberin


DiagnoseLeben mit Turner-SyndromMonosomie XTurner-SyndromUllrich-Turner-Syndrom

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