logo

1

frühkindliche Bildung – die Not aus der Praxis

frühkindliche Bildung – die Not aus der Praxis

Das diesjährige Ländermonitoring „Frühkindliche Bildungssysteme“ der Bertelsmann Stiftung zeigt wieder einmal auf, dass die Bedingungen für die pädagogische Arbeit unbefriedigend sind.

Es herrscht ein Ungleichgewicht zwischen Betreuung und Bildung vor. 

Zu wenige Fachkräfte kümmern sich um zu viele Kinder/ Familien und Erfordernisse. Für individuelle Bedürfnisse der Kinder, begleitete Lernerfahrungen in kleinen Gruppen, die Zusammenarbeit mit Familien (aktuell unter Schutzmaßnahmen) sowie Vor- und Nachbereitung (Raumgestaltung/ Dokumentation) zum Beispiel sind nicht genügend zeitliche, finanzielle und personelle Ressourcen vorhanden.

Einheitliche Standards fehlen und werden gefordert.

Die Debatte zur Qualität und vor allem zur Verfügbarkeit von Kindertagesbetreuung wird von verschiedenen Akteuren und seit Jahren geführt. Politik, Gewerkschaft, Verbände und Forschung nehmen dabei Positionen ein. Familien allerdings, wenn überhaupt und unter Anstrengungen erkämpft, nur am Rande.

Davon ausgehend, dass Familien, zwar durch die Vereinbarkeitsbemühungen auf die Betreuung angewiesen, doch von dem Wunsch, dass ihr Kind „gut aufgehoben ist“, beseelt sind, stellt sich trotzdem die Frage: Wie sehen Lernerfahrungen, die in hohem Maße zukünftige Bildungschancen beeinflussen, zum Beispiel in Kitas aus?

aus meiner Praxis

Als Fachkraft in einem Kindergarten kann ich nur aus meiner Arbeit einen verdeutlichenden Einblick gewähren. Es sei angemerkt, dass sich frühkindliche Bildung nicht auf diese Einrichtungsform beschränkt. Zudem befinde ich mich in einer luxuriösen Position. Natürlich muss ich mich an bestimmten Zeiten bzw. der Tagesstruktur orientieren. Ich achte derzeit darauf, dass die Gruppen getrennt von einander Ideen verfolgen, obwohl sie Impulse der anderen Kinder sehen und aufgreifen.

Ich bin ein Mitglied des Teams, aber keiner Gruppe zugeordnet. Ich bin eine Art „Atelierista“ im Sinne der Reggio-Pädagogik. Die Wunderwerkstattleiterin. Manche Aufgaben einer pädagogischen Fachkraft fallen für mich weg. Dafür übernehme ich andere, die das Team unterstützen, nehme eine beratende Expertenrolle ein und ermögliche kreative sowie künstlerische Aktionen in besonderem Maße. Wie bei folgendem…

roter Salzteig, broddelnde Vulkane und schäumende Blubberblasen

Drei Kinder entdeckten in der Wunderwerkstatt übriggebliebene Erdbeerkörbchen. In einem Rollenspiel eröffneten sie einen Verkaufsstand. Sie nahmen Allerlei, um die Körbchen zu füllen und verkauften zum Beispiel Baumscheiben als Pfannkuchen. Doch der Wunsch nach Erdbeeren blieb.

Als Impuls schlug ich vor, welche aus Salzteig zu machen. Dies wurde in die Tat umgesetzt. Mit Begleitung mischten die Drei Salz, Wasser und Mehl, kneteten und formten. Für diesen Tag widmeten sie sich dann anderen Dingen. Ihre „Ware“ trocknete derweil.

Weitere Kinder kamen und wollten ebenfalls etwas aus Salzteig entstehen lassen. Es wurde neuer Teig angemischt. Ein Kind hatte dann eine Mulde in den Teig gedrückt, sodass die Idee von einem Vulkan aufkam. Auch diese wurde umgesetzt und am Ende musste ein Vulkan trocknen. Dies dauerte um einiges länger. Es wurde über aktive Vulkane und Dinosaurier geredet. Der Vulkan sollte ausbrechen. Ich merkte an, dass dies möglich wäre, aber diesen Salzteigvulkan auflösen könnte. Das war nicht gewünscht.

Wir könnten einen Sandvulkan zum Brodeln bringen, schlug ich vor. Allgemeine Zustimmung. Ich besorgte also die Zutaten und machte mit meinen Kindern am Wochenende einen Test. Im Kindergarten dann bereitete ich die Zutaten vor. Im Sandkasten wurde Sand angehäuft und der Versuch konnte auch hier starten. Neugierige andere Kinder beobachteten das Geschehen. Obwohl sie an der Vulkanthematik nicht interessiert waren, das schäumende Rosa im Sand war ein Hingucker. Ich mischte mich nicht weiter in ihre untersuchenden und buddelnden Tätigkeit ein.

Vielmehr räumte ich die Zutaten auf und kümmerte mich um die Säuberung der Materialien. Wieder andere Kinder entdeckten mich dabei und wollten wissen, was und wofür das alles sei. Ich zeigte ihnen die Fotos und erzählte dazu. Sie würden das auch gerne ausprobieren. So wurde Werkstatt also zum Labor.

Mit Pipetten wurde in einer Schüssel Backpulver mit einem rosa Essig-Wasser-Gemisch zum Blubbern gebracht. Anschließend wurde der Versuch ausgeweitet und mit einem Becher geschüttet. Voller Faszination wurden die Blasen, die sich auf dem Untergrundtablett tummelten begutachtet. Da es sich um ältere Kinder handelte, schlug ich vor Metallhalme zu nutzen. Gesagt getan. Die Gruppe verkleinerte sich und die verbliebenen Kinder pusteten Blasen in Blasen. Ein Spritzer Spülmittel dazu und richtige Gebilde zeigten sich. Die Kinder tauschten sich über ihr Können und das Vorgehen aus.

Anschließend fertigte ich die Fotodokumentation an.

Lernerfahrungen

„Frühkindliche Bildung“ bezeichnet unter anderem die kindliche Entwicklung in jungen Jahren. Dabei geht es um die Verbindung und die Abstimmung von individuellen Lernvorgängen, wobei Kinder ein Bild von sich und der (Um)Welt formen, und sozialem Zusammenspiel.

Die Kinder in meinem Beispiel konnten sich ihrem eigenen explorativen Tun widmen, interagieren und wurden Ernst genommen. Sie konnten sich im Rollenspiel ausleben, Ideen und Überlegungen entwickeln, einbringen und umsetzen. Selbstwirksamkeit erfahren. Mit allen Sinnen erleben. Neue Perspektiven einnehmen. Ihre Finger- und Handgeschicklichkeit, Konzentration und Kreativität schulen. Taktil-kinästhetisch wahrnehmen. Grunderfahrungen sammeln als Basis für ein weiteres naturwissenschaftliches Interesse und systematische Auseinandersetzungen. Die Vorgänge wurden für Kinder und Eltern als Gesprächsanlass, Inspiration und wertschätzende Lerndokumentation in Wort und Bild transparent aufbearbeitet und ausgestellt. 

Der Knackpunkt dabei

Kinder widmen sich dem Entdecken, Lernen und Spielen nur, wenn sie sich „gut“ fühlen. Das heißt im ersten Schritt, wenn sie eine Beziehung zu den Pädagogen und Vertrauen zur Kita aufgebaut haben. Sich auskennen und sicher fühlen. Sich eingewöhnen konnten und dabei begleitet wurden.

Das heißt des Weiteren aber auch, dass sie zeigen können, wenn sie an einem Tag oder in einzelnen Momenten das Bedürfnis nach Halt haben und Hilfe bei der Gefühlsregulation brauchen, und aufgefangen werden. Dafür braucht es Zeit und Menschen, die wissen, was sie tun und worauf es ankommt. Die wertschätzende Beziehungen aufbauen und leben können, weil sie einfach mal vor Ort sind. Menschen, die nicht parallel noch acht andere Kinder im Blick haben müssen und so nur „halb“ da sind. 

Schaffen es die Pädagogen, dass Kinder in der Kita angekommen sind und spielen wollen, steht der nächste Balanceakt an. Ausgebildete Fachkräfte wissen: 

Nicht alle Kinder
lernen das Gleiche
zur gleichen Zeit
auf die gleiche Weise.
Kathy Walker
 

Nehmen wir den statistischen Wert „Personalschlüssel“ für Kinder ab 3 Jahren. Für neun Kinder, die ganztags in den Kindergarten kommen, gibt es eine Vollzeitstelle. Eine Fachkraft. Neun Kinder. Übertragen wir das auf mein Beispiel. Drei Kinder wollen einen Verkaufsstand eröffnen und dann Salzteig machen. Was machen die anderen Sechs? Die Zutaten müssen organisiert werden. Wie wird das realisiert? Beim Zusammenmischen herrscht Uneinigkeit darüber, wer was dazu gibt. Die Auseinandersetzung muss begleitet werden. Das Mehl landet auf dem Boden. Obwohl die 5-Jährigen sich darum kümmern, muss anschließend nochmal drüber gegangen werden. Wer macht das?

Während die ersten drei Kinder im Gruppenraum einer anderen Idee nachgehen, äußern andere Kinder den Wunsch nach Salzteig. Wird ihnen nun gesagt, dass das nicht geht oder beginnt ein neuer Prozess? Was passiert drumherum? Es findet sich eine Lösung. Aber welche? 

An einem anderen Tag befinden sich alle im Garten. Zur Zeit sowieso sinnvoll. (Allerdings hat nicht jede Kita einen Garten.) Manche helfen aktiv den Sand aufzuhäufen. Andere schauen zwar erstmal zu, beobachten, wie der Sandvulkan ausbricht, widmen sich dann aber anderen Dingen. Die Konzentration liegt bei der Aktion. Drei Kinder wollen mit Fahrzeugen fahren. Aus den Augenwinkeln wird wahrgenommen, dass die Kinder barfuß sind. Die Aufmerksamkeit entfernt sich von der Aktion. Die Fachkraft widmet sich dem Schutz der nackten Kinderfüße. Während sechs Kinder eigentlich grade erzählen, was sie sehen und denken.

Für eine Notiz dieser Lernerfahrung ist in dem Moment keine Möglichkeit. Selbst wenn Stift und Papier zur Hand sind. Durch die aktive Teilnahme am Geschehen ist eine Filmaufnahme, wenn den eine Kamera verfügbar ist, auch nicht zu handhaben. Derweil muss ein Kind ins Bad. Zwei Kinder geben kurz Bescheid und verschwinden im Gebäude. Vertrauen. Die Kinder schaffen das.

Dann ist Zeit zum Aufräumen. Wann wird die Dokumentation gemacht? Die Nachbesprechung findet im Kinderkreis vor dem Mittagessen statt. Während neun Kinder zu Wort kommen wollen. Wobei Vier davon erschöpft sind und doch lieber kuscheln wollen und Eins seine Aufregung hinausschreit und alle hungrig sind. Die körperliche Kraft der Fachkraft schwindet zusammennehmend, doch sie schafft es allem irgendwie gerecht zu werden. Während sie selbst keinen Schluck getrunken hat und noch vier Stunden vor ihr liegen. 

Aus diesen neun Kindern werden bei Halbtagsplätzen Vierzehn. Besteht ein unterschiedlicher Betreuungsanspruch kommt zu der Vollzeitkraft noch eine Teilzeitkraft. Stundenweise sind es also zwei Menschen mit Vierzehn oder mehr Kindern. Mein Beispiel entspricht stundenweise also einem fragwürdigen und kurzsichtig gedachten Ideal. Ist machbar. Ohne personelle Ausfälle durch Krankheit oder Urlaub, ohne die mittelbare pädagogische Arbeit, ohne Eingewöhnung oder andere kindliche Bedürfnisse, die mehr Beachtung und Handlung erfordern würden.

Ich bin dabei eine dritte Variable, die so gar nicht vorgesehen ist und sich mein Träger leistet. Allerdings bin ich zusätzlich da. Für 150 Kinder. Mit einer Teilzeitstelle. 

Es brodelt in mir. 

Wie wahrscheinlich in jeder pädagogischen Fachkraft, die mit dem Herzen dabei ist. Versäumnisse auf politischen Ebenen und die Konsequenzen werden deutlich. Die individuellen Anstrengungen, das Beste aus den Gegebenheiten zu machen, kosten Nerven. Unzulänglichkeiten werden kompensiert. Die Unzufriedenheit wächst. Täglich. Auch bei den Eltern. 

Es werden Zahlen auf den Plan gerufen, die sich in der Praxis so furchtbar unzureichend anfühlen. Der Personalschlüssel ist ein statistischer Wert. Eine Theorie. Er spiegelt nicht die tatsächliche tägliche Betreuungsrealität wieder. Die Fachkraft-Kind-Relation sollte im Vordergrund stehen. Die Berücksichtigung von tatsächlichen menschlichen Kontakten und der Ausgleich von mittelbarer pädagogischer Arbeit (Teamsitzungen, Gespräche mit Familien, Dokumentation, Fortbildungen – all das, was für gewöhnlich ohne, aber für die Kinder stattfindet).

Es fängt damit an, dass Auszubildende, die praxisintegriert lernen, nicht auf den Personalschlüssel angerechnet werden dürfen. Sie sind in der Regel an zwei Tagen nämlich gar nicht vor Ort. Und sie lernen noch. Sie sind nicht ausgebildet. Müssen aber so eingesetzt werden. 

Beim Fachkräftemangel werden Lücken gestopft. Irgendwie. Zu Lasten der wertschätzenden Beziehungsarbeit. Und ja, das Miteinander ist Arbeit. Zu Lasten der Lernerfahrungen. Da nur ein Minimum umsetzbar ist. Fachkräfte müssen genau abwägen, was sie leisten können. 

In der Debatte um die Qualität werden Sprachförderangebote, naturwissenschaftliche Experimente, Umweltthemen, Kinderschutz und und und auf den Tisch gebracht. Für den Inklusionsgedanken, der fatalerweise nur am Rande gefordert wird, muss sich Raum und Zeit erkämpft werden. Es erfordert Denkarbeit sich zu überlegen, wie das Miteinander für Alle möglich gemacht werden kann. Gar nicht so einfach, wenn nebenbei eine Vielzahl von Kindern spielen.

Es könnte aber einfach sein, wenn nicht die einzelnen Bereiche in den Fokus gerückt werden sondern ganzheitlich überlegt wird. Unterm Strich braucht es qualifizierte Menschen, die entsprechend bezahlt werden. Sie können mit den Kindern sprechen während sie ein Experiment mit einer kleinen Gruppe zum Thema Umwelt machen, was sie anschließen künstlerisch aufarbeiten und in Bewegung umsetzen. Die gemeinsame Erfahrung fördert das Vertrauen und die Beziehung. Darüber können sie dann wiederum mit den Familien in Kontakt kommen. Und diese unsäglichen einzelnen Fördertöpfe und unterschiedlichen Bestimmungen/Vorgaben sollten vereinheitlicht werden. 

Bildung und Beziehung müssen zusammen gedacht werden. 

Für alle Beteiligten, alle Akteure in dieser Debatte, sollte klar sein, was Lernerfahrungen sind, dass sie die Bildungschancen ebnen, und nur durch wertschätzende Beziehungen stattfinden können. Dafür braucht es Menschen, deren Leistung und Kompetenz anerkannt und finanziert wird. Mir ist bewusst, dass es eine komplexe Angelegenheit ist. Aber wie die GEW (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft) mahne ich, dass es neben dem quantitativen Ausbau der frühkindlichen Bildung einen Qualitätsschub in den Einrichtungen braucht. Dafür müssen die Gesetze geändert werden. Dafür muss verdeutlicht werden, was frühkindliche Bildung eigentlich ist. Selbst, wenn Kinder keine Einrichtung besuchen, muss das passieren. Jeder einzelne Mensch sollte um die Bedeutung der frühen Jahre wissen. Kinderrechte gehören ins Grundgesetz. Damit ihre  Rechte, im Mittelpunkt des Bestrebens zu stehen, mehr Gewichtung bekommen. Eine Grundlage, sodass Familien und familienunterstützende Einrichtungen an Bedeutung im politischen Geschehen gewinnen. 

Was kann getan werden?

Welche Gedanken habt ihr dazu? Wenn es Aktionen gibt, lasst es mich wissen? Wenn ich Ideen, Petitionen oder Anderes unterstützen kann, lasst es mich wissen.

Anne


Bildung und BeziehungBildungskrisefrühkindliche BildungKitakrisePädagogin

Kommentare

  1. avatarMonatslieblinge September 2020 - x-mal anders sein

    […] frühkindlicher Bildung, Kinderarmut und Kinderrechten habe ich mich beschäftigt und vielen tollen […]