Nachbarschaftsgeschichte
In der großen Stadt wohnen fast 4 Millionen Menschen. Gut 34.500 davon leben mit uns in einem Stadtteil. Wie viele es im Kiez oder gar in „unserem“ Plattenbau sind, weiß ich nicht. Was ich weiß, eine Familie in unserem Aufgang ist ausgezogen. Das macht mich traurig und darum möchte ich eine Nachbarschaftsgeschichte teilen.
unsere x-mal andere Nachbarschaftsgeschichte
Man grüßt sich. Päckchen werden angenommen. Mit manchen Nachbarn unterhalte ich mich ab und zu bei Begegnungen im Hausflur. Das war es im Wesentlichen. Bis auf eine Situation, bei der es gut war, dass ich die Treppe nahm, lässt sich noch keine außergewöhnliche Nachbarschaftsgeschichte erahnen. Doch in der fünften Etage wohnte eine Familie. Eine Frau, ein Mann und erst ein Kind und am Ende vier Kinder lebten dort. So wie sich das Jahr seinem Ende zuneigt, bereitete sich die Familie auf ihren Aus- bzw. Umzug vor. Das eine Vier-Raum-Wohnung für sie zu wenig Platz bot, überrascht nicht. Von Herzen freut es mich, dass sie ein neues Heim gefunden haben. Traurig bin ich trotzdem, weil meine Lieblingsnachbarin nun nicht mehr meine Nachbarin ist.
Über die Jahre…
Es war immer schön, diese Frau & Mutter zu treffen. Am Briefkasten. Auf dem Spielplatz hinter dem Haus, beim Hügel mit Schlitten oder bei der Plansche mit Wassermelone, die geteilt wurde… Irgendwann tranken wir Kaffee zusammen. Spontan. Die wenigen Etagen zwischen unseren Wohnungen begünstigten die Spontanität und zu Lockdown-Zeiten waren die Schwätzchen im Treppenhaus wohltuend. Meine Lieblingsnachbarin wusste immer bestens Bescheid. Kannte alle im Aufgang. Wir tauschten Informationen über den Kiez wie die Reaktivierung einer Schule, reduzierte Artikel beim Drogeriemarkt oder den Ablauf des Tausches der Funktionsschlösser im Haus, Keller & Co. aus. Mit der gesteigerten Kinderzahl kam es, dass wir Kinderkleidung tauschten. Ganz einfach über das Abstellen vor der jeweiligen Wohnungstür mit einer kurzen Notiz. Unproblematisch. Was nicht gebraucht wurde, wurde einfach zurückgestellt. Mit einer kurzen freundlichen Notiz. Als sie zum Speermüll fahren wollte, hat sie gefragt, ob ich auch etwas habe. Da ich mich nicht ans Steuer eines Autos setze, war das ein wirklich tolles Angebot. Wenn meine Kinder allein Zuhause waren, wussten sie, dass sie im Notfall „runter“ flitzen konnten. Als eins der Nachbarskinder seinen Schlüssel & Handy vergessen hatte und auf der Treppe sitzend wartete, konnte ich die Mama anrufen und das Warten bei mir anbieten. Und meine Lieblingsnachbarin hat mir jedes Jahr an Nikolaus etwas in den Stiefel gepackt. Unsere Schuhe stehen immer vor der Wohnungstür, weil die Vorstellung, dass ein fremder Mann in unsere Wohnung kam und Geschenke brachte, die Kinder ängstigte. Dann wurde es Tradition. Nach dem nur noch ich und die Kinder hier wohnen, zauberte mir über die Jahre diese Geste immer ein Lächeln ins Gesicht.
ein Miteinander bei all dem Nebeneinander
Das, was unsere Nachbarschaftsgeschichte so x-mal anders macht, war diese herzige Freundlichkeit. Wir pflegten keine tiefe Freundschaft. Sondern ein ungezwungenes nachbarschaftliches Verhältnis mit einem Gefühl von Verbundenheit und Gemeinschaft. Nun ist die Wohnung geräumt. Die Schlüssel sind abgegeben. Meine Lieblingsnachbarin wird mir fehlen. In dieser großen Stadt mit den vielen Menschen. Die gute Seele unseres Aufgangs des Plattenbaues vermisse nicht nur ich. Viele Nachbarn kamen, um sich von der Familie zu verabschieden. Und so lächle ich nun beim Grüßen im Hausflur ein bisschen mehr…
Die Anonymität der Großstadt und eine Form von zwischenmenschlicher Ungebundenheit mag seine Vorteile haben. Doch das kann auch einsam machen und begrenzen. Während ich über meine Lieblingsnachbarin und unsere Nachbarschaftsgeschichte nachdenke, merke ich wie schön es ist mehr als ein Name am Klingelschild zu sein und wie bereichernd der Kontakt war und ist. Ich wünsche mir mehr Nachbarschaftlichkeit und Miteinander. Wie ist das bei dir (und deinen Nachbarn)?
Eure Anne
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