Salon für inklusiven Dialog – Lesung und Autorinnengespräch
Abends in Berlin Neukölln. Eine urige Kneipe. Die Hobelbar. Der Salon für inklusiven Dialog. Organisiert von dem Verein „Eltern beraten Eltern„. Schneeweißchen und Rosenrot, wie die Autorinnen Kathrin Fezer Schadt und Carolin Erhardt-Seidel lachend sagen, lesen aus „Lilium Rubellum“ und „Weitertragen“.
Zwei Bücher. Zwei Frauen. Ein berreichender Zusammenschluss. Entstanden durch die persönlichen Erfahrungen mit der Pränataldiagnostik.
das rote Herz
„Lilium Rubellum“ – eine seltene Lilienart, die vom Aussterben bedroht ist, betitelt und symbolisiert ein, im Herbst 2014 erschienenes, lyrisches Werk. Der Roman geht ans Herz. Erzählt von einer beginnenden Schwangerschaft. Von den Empfindungen einer Frau. Von der entstehenden Verbindung. Ängsten. Trauer. Schildert mit bildreichen Worten drei mögliche Szenarien. Lässt uns vertrauensvoll teilhaben an Entscheidungen, die getroffen werden müssen, weil das wachsende Glück unter ihrem Herzen als nicht lebensfähig eingestuft wird. Abbruch. Austragen. Paliative Geburt. Am Ende nimmt uns die Geschichte mit in die Zeit des Danach.
Tabuisiertes Sterben. Im Mutterleib. Nach der Geburt. Begleitet. Stille. Wenn „Hauptsache gesund“ die Frage nach dem Geschlecht nicht relativiert. Auf ehrliche Weise macht Kathrin Schadt emotional sowie berührend Gedanken und Vorgehensweisen nach einem übermittelten Befund und in der Geburtshilfe erfahrbar, die uns in Kontakt bringen mit elementaren Fragen. Wann beginnt unser Leben? Wieviel Zeit bleibt?
die weiße Hoffnung
„Weitertragen • Wege nach pränataler Diagnose“ ist ein Begleitbuch für Eltern, Angehörige und Fachpersonal. Es kann helfen sich mit anderen Familiengeschichten auseinanderzusetzen, um einen passenden Umgang mit der eigenen Situation nach einem pränataldiagnostischen Befund zu finden. Möglichst wertfrei. Informierend. 20 Interviews. Betroffenenberichte & Fachpersonalberichte. Mit einem angepassten Schwangerschaftsratgeber. Mit Rechtlichem. Mit Geburtsvarianten. Mit Alternativen wie Adoptionsfreigabe. Mit einem Blick für Erden-, Himmels- und Folgekinder. Mit Begriffserklärung und Literaturverzeichnis. Unterteilt, bei einer 336-seitigen Stärke, in vier Hauptkapitel. Zum Querlesen. Vorgeburtliche Untersuchungen können komplexe Entscheidungen erforderlich machen. Diese sollten auf der Grundlage von wertschätzender Begleitung, ohne Bedrängnis, mit Raum&Zeit sowie umfassender Aufklärung getroffen werden. Das Buch hilft dabei.
Was macht die Zeit?
Nicht zum ersten Mal lauschte ich den beiden. Und doch bin ich berührt. Anders dieses Mal. Dafür hat die Zeit gesorgt. Sie heilt alle Wunden. Heißt es doch. Stattdessen aber schließt sie nur die Wunden und lässt uns mit den Narben leben.
Die ungewisse Gewissheit, das niemand sagen kann, wie es wird, ist es, was uns schaudern und zaudern lässt. Heute stellt die (pränatale) Diagnose meine Tochter, meine Erstgeborene, nicht mehr in den Schatten. Das ist merklich. Ich schreibe hier über das, was mich bewegt, beschäftigt und interessiert. Der UTS-Anteil ist gering geworden. Eine wichtige Botschaft, weil es unser Leben nicht bestimmt. Dafür hat die Zeit gesorgt.
Ein Embryo wächst von der Größe eines Mohnsamen bis zur zehnten Schwangerschaftswoche zur Größe einer Olive heran.
Wir stellen diese Vergleiche an, um das wachsende Leben besser zu begreifen. Gleichzeitig stellen wir es damit auf den Prüfstand. Immerhin würde es Untersuchungen nach sich ziehen, wenn aus dem olivengroßen Embryo kein limettengroßer Fötus würde.
Doch eigentlich reicht die bloße Existenz für den Prüfstand. Mit der PND bzw. NIPD, nicht-invasiven Pränataltests, können schließlich seit Jahren Bewertungen über ungeborenes Leben abgegeben werden. Aus dem Blut der Schwangeren Spuren des kindlichen Erbgutes herausgefiltert und hinsichtlich der Chromosomen untersucht werden. Auch dafür hat die Zeit gesorgt. Der medizinische Fortschritt.
Jetzt geht es darum, zu überlegen, wie damit umgegangen wird. Jetzt geht es um die Zukunft.
Der deutsche Ethikrat skandierte zum 10-jährigen Jubiläum im letzen Jahr: „Hilfe zum Selbstdenken – das ist Ethik“. Und genau darum sollte es gehen. Die Art der Kommunikation, wie Wissen weitergetragen werden soll/wird, Beratung, Aufklärung, Informationsquellen – das WAS und WIE sollte dabei geregelt und festgelegt werden. Eine Broschüre reicht nicht. Und die Werbung des Herstellers von Bluttests ist keine wertfreie Entscheidungshilfe.
Was ist schon Zeit, wenn keine Zeit bleibt?
Was ist, wenn das wachsende Wesen unter dem mütterlichen Herz als nicht lebensfähig eingestuft wird? Im Innersten verbunden. Der Möglichkeit beraubt das volle Potenzial auszuschöpfen. Was, wenn ein Befund Behinderung bedeutet?
Was wen wir keine Zeit haben, weil wir eine Entscheidung treffen müssen, weil das Ungewisse Gewissheit werden wird. Spätestens nach 9 Monaten.
Wann ist der richtige Zeitpunkt sich mit der Pränataldiagnostik zu befassen? Die Autorinnen befürworten, dass das Thema Teil des Aufklärungsunterricht an Schulen wird. Haben ein Schulprojekt dazu unterstützt, bei dem sich die Schüler*innen durch reichhaltige Erfahrungen wie Gespräche ein Bewusstsein erarbeiten konnten.
Offen bleibt, ob ein Schwangerschaftsabbruch nach pränataldiagnostischem Befund gesellschaftlich erwartet wird? Was macht die Zeit, wenn neun Monate neuen Tagen gleichen? Wie gestaltet sich die ärztliche Beratung? Empathisch? Wie sieht Aufklärung aus? Welche Möglichkeiten/ Alternativen gibt es? Was wird die Zukunft für die Geburtshilfe bringen? Wird die Zeit eine inklusivere Gesellschaft hervorbringen?
Begegnungen lösen etwas aus. So auch diese. Rufen Fragen, durch die verschiedenen Aspekte von Inklusion, hervor. Ein politischer Diskurs ist ebenso wie im Privaten höchst relevant.
Was macht die Zeit mit unseren Gedanken? Dem roten Herz? Der Hoffnung?
Sommer in Berlin. Blick über den Tellerrand. Bewusstsein. Sensibilisierung. Danke für den Abend.
Anne
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