Erinnerungen fühlen mit Geneviève Castrée
„Alles was uns begegnet, lässt Spuren zurück. Alles trägt unmerklich zu unserer Bildung bei.“
Johann Wolfgang von Goethe
Wen wir uns mit uns selbst auseinandersetzen, kommen wir unweigerlich zu unseren Wurzeln. Was ist es, was uns ausmacht? Uns geprägt hat? Die Zeit des Heranwachsens hinterlässt Spuren. Genauso wie die Menschen, die dabei an unserer Seite waren.
Wir sind die Summe unserer Erfahrungen und Erinnerungen. Ein verstörender wie tröstlicher Gedanke. Heißt es doch, dass das, was wir erlebt haben in Kinder- und Jugendtagen, unser (erwachsenes) Dasein maßgeblich beeinflusst. Gleichzeitig können fortwährend neue eindrucksvolle Ereignisse& Beziehungen auf unser Denken&Handeln einwirken.
Hirnforscher betonen sogar die fundamentale Bedeutung von schlechten Erfahrungen, die zum Zweck des Überlebens in unserer Erinnerung vorherrschen, und uns mahnen zukünftig Vorsicht walten zu lassen. Änderungen im Verhalten vorzunehmen.
Entwicklungspsychologen ermutigen uns zum Erinnern. Ereignisse, sei es der Geburtstag, das Hüpfen in Pfützen oder ein Streit, behalten wir besser im Gedächtnis, wenn wir darüber reden, sie aufschreiben. In dem wir Dinge aus der Vergangenheit „bearbeiten“, können wir sie strukturieren, das Positive hervorheben sowie unangenehme Gefühle bewältigen, nachregulieren, was unseren jetzigen und zukünftigen Selbstwert steigert.
Wir existieren nicht lösgelöst von Vergangenem. Aber wir sind dem nicht bis in alle Zeiten ausgeliefert.
Berührend, mitunter erschütternd, auf jeden Fall ergreifend und mutmachend transportiert Geneviève Castrée genau das in ihrer 2013 erschienenen autobiografischen Graphic Novel.
Ausgeliefert
Die Protagonistin Goglu wächst in den achtziger und neunziger Jahren auf. Als sie zwei Jahre alt ist, fährt der Vater mit seinem Motorrad in die Nacht davon in die kanadischen Wälder. Der Kontakt ist unregelmäßig. Das Leben mit der Mutter ist unbeständig. Geprägt von Alkohol und Drogen. Unsicherheiten und Fragen. Sowie Umzügen. Der neue Partner der Mutter ist kein liebevoller Stiefvater.
Goglu ist viel auf sich alleingestellt. Probiert sich später selbst an verschiedenen Substanzen aus. Strauchelt bei zwischenmenschlichen Beziehungen. Bekommt Hilfe, die nicht immer auf sie abgestimmt ist. Lernt trotzdem. Zeichnet. Und entwickelt Stärke.
„Ich habe mich so weit von meiner Familie entfernt, dass ich schon fast gar nicht mehr dazugehöre.“, mein Goglu.
Seite um Seite gewährt uns Goglu bzw. die Comic-Autorin tiefe Einblicke in die Seele einer Heranwachsenden. Sichtbar werden in schwarz-weiß festgehaltene subjektive Wahrnehmungen aus einem strukturlosen Leben, ehrlich und ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit. Intensiv nachzufühlende Momente und Gefühle werden durch fein detaillierte Zeichnungen, Texturen, Szenen und einzelne Bilder transportiert. Die Gesichter der Personen spiegeln in einer beachtlichen Eindringlichkeit Emotionen. Manches Mal sind die Sprechblasen ein Beiwerk, was es fast gar nicht braucht.
Das Lesen erinnerte mich an das Blättern in einem Tagebuch. Dieses Empfinden ebenso wie das Erleben von etwas ganz Persönlichem wird durch das mitunter beschwerlich zulesende Handlettering unterstützt.
Zukunftsorientiert und mit dem Willen selbstbestimmt zu leben beendet Goglu ihre Geschichte des Aufwachsens und das macht unglaublich viel Mut.
Durch ihren Rückblick und das Nacherleben scheint sich Geneviève Castrée (nochmals) frei zu machen. Offensiv und ehrlich geht sie nicht nur in dem Comic mit ihrer Geschichte um und veranschaulicht damit ausdrucksstark die Bedeutung von Erinnerungen und den aktiven Umgang damit.
Die kanadische Musikerin und Zeichnerin gründete mit ihrem Mann Phil Elverum eine eigene Familie. Tragischerweise müssen sie sich auf eine andere Weise mit der Entfernung von der Familie auseinandersetzen.
Vier Monate nach der Geburt ihrer Tochter wurde Krebs diagnostiziert und Geneviève Castrée verstarb mit 34 Jahren. Den Glauben, das am Ende alles Gut wird, innehabend arbeitete sie an einem Geschenk für ihre Tochter, sodass diese irgendwann versteht, dass die Krankheit das Miteinander gestört bzw. verhindert hat, nicht die mangelnde Liebe. Es entstand ein berührender Comic, der von dem befreundeten Zeichner Anders Nilsen vollendet wurde.
Seifenblase
Die Mama eines Kleinkindes wird umschlossen von einer Blase. Sie lebt darin. In ihr ist Raum für schöne Momente, gemeinsames Frühstück oder Malen, und Nähe beim Mittagsschlaf zum Beispiel, aber verlassen kann die Mama sie nicht. Zu abenteuerlichen Waldausflügen geht das Kind mit seinem Papa alleine.
Was passiert, wenn die Blase platzt?
Seifenblasen symbolisieren Schönheit und Vergänglichkeit. Eben dies zeigt dieses Pappbilderbuch mit detailreichen, liebevollen und farbigen Zeichnungen und auf den Punkt gebrachten Sätzen.
Erwachsenen fehlen oft die passenden Worte, um Kindern eine schwere Erkrankung und deren Folgen zuerklären. Die Gefühle fahren Achterbahn. Manches Mal ist es tabu darüber zu sprechen. Dieses Comicbuch ermöglicht einen Zugang.
Das Kleinkind berichtet dem Lesenden von seiner Mama. Wir sehen den Blick auf die Seifenblase. Nicht aus ihr heraus. Als Abschiedsgeschenk einer sterbenden Mutter hätte es auch gut andersherum sein können. Ihre Perspektive. Ihre Worte.
Für mich schenkt Geneviève Castrée ihrer Tochter damit mehr als wir auf den ersten Blick wahrnehmen. Sie schenkt ihr Erinnerungen, Spuren, eine Gedächtnisstütze, einen Anlass die Zusammengehörigkeit nachzufühlen und das Gute zu forcieren.
Erinnerungen fühlen
Ein bedeutungsschweres Ganzes ergeben die beiden autobiografischen Comicerzählungen. Mit Offenheit ermuntern sie uns Erinnerungen nachzugehen. Auch, wenn sie schmerzhaft sein können. Wir können daraus Kraft schöpfen und uns dem Hier und Jetzt mehr widmen, weil wir ein Gefühl der Selbstwirksamkeit spühren, weil wir nicht ausgeliefert sind und uns entwickeln können.
Welche Erinnerungen trägst du in dir?
Welche Spuren haben dich geprägt? Wie können wir den positiven Effekt nutzen? Was denkst du?
Anne
Bei den Büchern handelt es sich um Rezensionsexemplare. Meine Meinung beeinflusst das nicht.
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