Stilisierung der Persönlichkeit – Sinnfragen an Sommertagen
Sonnige Sommertage. „Schau, wie schön es sein kann.“, strahlt der blaue Himmel. Wie zum Hohn.
Wie kann es schön sein, wenn die Überbleibsel eines Lebens in zwei Kartons passen?
Die letzten zwei Kartons. Lange hatte ich sie nicht anrühren können. Was macht die Zeit mit den Sachen? Wann vergilben Dokumente? Wie lange hält sich der Geruch darin? Es kam wie erwartet. Überwältigt von Schmerz, Wut und Trauer saß ich weinend da. Wegen dem, was war und hätte sein können.
Schon lange ist es nicht mehr nur der Verlust, der schmerzt. Vielmehr sind es aufkommende Erinnerungen, einst sorgsam verdrängt, und die aufwühlende Erkenntnis, dass meine synaptischen Verbindungen, bestehende Denkmuster, sich ändern (müssen).
Ich betrachtete die Habseligkeiten. Ich wühlte in den Kartons. Auf der Suche nach dem Leben. Dem, das endete. Und meinem. Ich räume auf. In meinem Kopf und Herzen. Eine Karussellfahrt. Ohne Ende. Ohne Ausstieg. Vielleicht auch eine Achterbahnfahrt. Ich weiß es nicht.
Einatmen. Ausatmen. Ein heizer Sommertag. Drückend. Ein Gewitter im Anflug. Überlegungen gären vor sich hin.
Am Ende bleiben also von einem Leben Kartons. Keine hübschen mit Schleife darum. Nur graue, praktische und fade Pappdinger. Gefüllt mit bunten Fragmenten. Zeitzeugen. Schnappschüssen. Festgehaltenen Augenblicken. Personalien, welche die Existenz belegen. Ohne Glanz und Gloria.
Zu Lebzeiten hingegen, Hier und Jetzt, sind wir umgeben vom schönen Schein. Inszenierung. Darstellung. Begehrlichkeiten. Von dem Bedürfnis nach wirtschaftlicher Sicherheit. Dem Suchen nach einer sinnstiftenden Tätigkeit. Zeitweiser Zerstreuung. Wandeln dabei durch eine omnipräsente Warenwelt. Verpacken unser Sein nicht in graue oder braune, zwar nützliche, aber unansehnliche, Kartons. Gewählt wird die Schmuckverpackung. Angestrebt wird die Anerkennung.
Wollen wir wirklich dieses normierende, auf Erfolg, Leistung und Perfektion getrimmte Leben? Während wir den schönen Schein zur Schau tragen, während wir Zerreißproben aushalten und uns in den Hamsterrädern des Alltags abmühen. Ohne Entkommen. Vielleicht angetrieben durch die Unvereinbarkeit von Familienleben, Gelderwerb und Selbstaufopferung. Immer lächeln. Nach Außen. Jammern wird verpönt. Bloß keine Schwäche zeigen. Lieber einen Selbstoptimierungskurs belegen.
Wir alle sind mit klischeereichen Bildern aufgewachsen. Dem perfekt brutalen Schein. Masken, die Menschen in der Öffentlichkeit aufsetzen, damit niemensch hinter die Fasde blicken kann. Mit schwarz-weiß, schön-hässlich, null-hundert und gut-schlecht Kategorien. Was aber ist mit dem Spektrum?
Dem Absoluten haften Wirkmächtigkeit und Ohnmacht gleichermaßen an. Das Sein in der schicken Schachtel mit dem Etikett des „SCHAFFEN MÜSSEN“ macht auf Dauer unzufrieden. Bisweilen krank. Wenn sich unter dem Druck der perfekten Schleife nichts als Erschöpfung und Leere breit macht.
Ohne Extreme können wir wohlwollender Denken und Handeln. Warum nicht das anerzogene Korsett ablegen?
„Mama, wie findest du mein Bild?“ – Natürlich antworte ich auf diese Frage meiner Kinder. Aber ich beantworte sie nicht direkt. Tue mich schwer damit. Mit der Bewertung. Doch meist scheint es nicht um Anerkennung sondern Orientierung zu gehen. Sie richten ihren Maßstab an mir aus. Ich wähle meine Wörter daher meist mit Bedacht. Zweifle und wage mich doch an den Drahtseilakt. Möglichst ohne zu straucheln zwischen Entweder-Oder.
Es ist mühsam.
Ich erfahre grade wie nützlich „Labels“ sein können. In der entsprechenden Schublade liegt der Schlüssel zu passender Hilfe. Ich frage mich also, ob das Problem nicht an anderer Stelle liegt. Vielleicht besteht es nicht darin, dass wir Ordnung, Kategorien, Normen und Wertesysteme schaffen, haben und brauchen.
Vielmehr ist doch fraglich, warum und was wir reproduzieren… Woran die Stilisierung der eigenen Persönlichkeit zu einem Wert an sich sich orientiert und ausprägt und wie gelebt wird? Oder eben dargestellt… Warum muss das Sein in eine allgemein anerkannte Hülle passen? Warum wird ein Ideal konstruiert, was so sehr begrenzt? Wo ist die Hintertür? Nutzen wir sie.
Menschen sind Rudeltiere und das Auskommen Miteinander sichert das Überleben. Aber ist DAS eine erstrebenswertes Lebenform? Hinter Folie. Wie Puppen. Fremdbestimmt. Nur hübsch verpackt.
Woher kommt die Angst? Wovor Grautes, wenn am Ende doch nur zwei graue Kartons stehen bleiben?
Die Sonne brennt. Die Gedanken kreisen munter weiter. Gären. Während der blaue Himmel strahlt. Während die Tränen rollen. Verwirrung. Fragen. Ratlosigkeit. Es ist mühsam. Die Hand an der Hintertür… Dahinter das Ungewisse… Das Spektrum. Und Antworten? Das Leben? Vielleicht auch mein Sein?
Sinnfragen an Sommertagen und zwei Kartons.
Anne
Monatslieblinge August 2020 - x-mal anders sein
[…] Sein in der schicken Schachtel mit dem Etikett des „SCHAFFEN MÜSSEN“ nachgedacht. Text hier. Das erwähnte Hamsterrad des Alltags ist nur eine andere Form, die mich und uns in Schach […]