Erinnerungsschätze
meine Heimatstation
Die wohlklingende, vertrautanhauchende Stimme verkündet „Samariterstraße“. Die U-Bahn hält. Ich steige aus. Dränge mich durch eine Traube von Einsteigenden. Tauche auf. Stehe auf „meinem“ U-Bahnhof. Sanft streiche ich über einen Stahlpfeiler. Unzählige Male bin ich dort ein- und ausgestiegen. Unzählige Male bin ich dort angekommen. Unzählige und ein Mal weggefahren. Und dann bin ich Jahre nicht da gewesen. Doch die Zeit hat meine Station nicht berührt. Stein ist geduldig. Der Bau gepflegt. Altes ist noch da an diesem U-Bahnhof der Linie U5. Ein Fahrstuhl hinzugekommen.
Keine Bilder laufen wie ein Film, der zurück gespult wurde, in meinem Kopf. Vielmehr erinnert sich das Herz. Erinnert sich an die Hand, die meine hielt, um vom Gleis die Treppe zur Frankfurter Allee zu erklimmen. Aufgetaucht fängt das Ohr längst gesprochene, ermahnende Worte, die mich daran erinnerten wachsam zu sein für den Verkehr und die Hundehaufen am Straßenrand. Die Augen sehen, das Gehirn gleicht ab. Ich denke, dass der Burger King und das Stoffhaus immer schon da waren. Ich weiß, dass der Blumenladen früher der Tabakladen war. Es gab dort diese Gummifrösche mit dem weißen Schaumzeug unten dran. Jetzt gibt es feine Pfeifen und Zigarren hinter Glas zwei Geschäftsräume weiter.
Der Grieche auf der anderen Straßenseite ist nun Teil einer Bäckereikette. Für Lebensmittel muss man weitere Wege gehen. Es gab früher einen „Tante Emma“ – Edeka. Ausreichend. Die Ampelschaltung hingegen ist gleich. Von der einen zur anderen Seite muss zügig gegangen werden, weil sonst ein Stopp in der Mitte nötig wird. Zur Wohnung gehend schafft man es locker in einem Durchgang. Wie früher.
Erinnerungen sind Teil unseres Lebens. Nutzen wir sie.
Die Summe unserer Erfahrungen macht uns aus. Wir werden davon geprägt. Wir bilden unsere Kategorien auf ihrer Grundlage. Erlebnisse, die damit verbundenen Gefühle, Gegenstände, Orte und nicht zu Letzt die Menschen in unserem Miteinander, gestalten unser Weltbild. In uns schlummern Erinnerungsschätze, die aktiviert werden können. Das sind Erdbeeren, die nach Frühling und Sonne schmecken. Das ist Sand, der durch Finger rinnt und zwischen den Zehen hängt, und einen Hauch von Unbeschwertheit mit sich bringt. Das ist der Fernsehturm als Pinnnadel auf meiner Landkarte. Das ist die Fete de la musique, die mich an die entscheidende Begegnung mit meinem Herzmann erinnert und dieses Kribbeln im Bauch aufflackern lässt.
Dessen bewusst, können wir uns Schatzkästchen packen. Packen wir uns gedanklich oder greifbar mit Symbolträgern wie es Postkarten für Länderreisen sind, ein, was wohlige Gefühle weckt, Geborgenheit ausstrahlt und auf das wir in der Not zurückgreifen können. Wir können an Orte gehen, wo es uns gut ging. Wir können Gegenstände aufheben oder unser Soulfood wie Oma kochen.
Machen wir uns klar, welche Erinnerungen in unserem Herzen den meisten Platz einnehmen. Teilen sie mit anderen. Wir können auch den Rotstift ansetzen. Es anders machen wollen als unsere Eltern. Anders. Nicht besser. Nicht schlechter. Unsere Kindheit ist vergangen. Wir können nichts daran mehr ändern. Wir können nur die Schätze sammeln, darauf zurückgreifen, unsere Wurzeln streicheln und uns mit vergangenen Schmerzen versöhnen. Wunden zu kultivieren bringt uns nicht weiter im Leben.
Vielleicht schenken wir unseren Kindern einen Koffer für ihre Schätze.
Ich weiß, dass meine Mama mich liebt. Das ich es Wert bin, geliebt zu werden. Das ist einer meiner Schätze, den ich in mir trage. Besonders an meiner Heimatstation entfaltet er sich.
Momente sind flüchtig. Zeit schreitet voran. Und mit der neuen Zeitrechnung von Elternschaft ticken die Uhren sowieso anders. Brücken, die uns Zugriff auf unsere Erinnerungsschätze ermöglichen, sind bedeutsam. Nicht um sonst heben viele wie ich besonders akribisch die ersten Babysachen auf. Wir wollen diese erste Kennlernzeit festhalten und uns erinnern können.
Ich fühle. Wandle in der Zeit. Neues und Vertrautes ist da. Da an meiner Heimatstation, meinem Stückchen Frankfurter Allee.
Das Herz erinnert sich an die Wurzeln. Die Füße wollen die Treppen in den sechsten Stock hochsteigen. Ich strecke die Hand aus, um in der Vergangenheit anzuklopfen. Ich möchte meine Schuhe ausziehen. Sie vor den großen Holzschrank stellen, der beim Eintreten zu meiner Rechten stünde und dessen Spiegeltür mich immer so faszinierte. Ich würde meine Mama umarmen und ihr sagen, dass Arbeit und Ordnung wirklich nur das Leben sind. Ich wäre klein und groß zu gleich.
Welche Erinnerungsschätze trägst du in dir?Anne
ErinnerungenHeimatstationSamariterstr.
Kindheitserinnerung - x-mal anders seinx-mal anders sein
[…] dieses Gefühl von Wurzeln, von Verbindung zu meinem Ich von damals, was ich habe, wenn ich an meiner Heimatsstion bin und deswegen bin ich gerne in meinem alten Kiez […]
Martha
Hab deinen Artikel mehrmals gelesen. Mich mehrmals an deinen so klugen und wertvollen Gedanken erfreut. Und über den Kontrast gestaunt, dass deine Heimatstation mehr oder weniger mein neues Zuhause umschreibt- wahrscheinlich mit weniger Liebe assoziiert aber trotzdem ein richtiges Zuhause, eins auf das ich mich freue, wenn ich länger unterwegs war. Und im Kontrast zu meinem Stückchen Plattenbau, denke ich an das uralte Fachwerkhaus in einer Straße aus Kopfsteinpflaster am Ende einer langen Einfahrt, im Sommer mit Blumen umwuchert. Liebe und Geborgenheit, die mir reichlich geschenkt wurden, die ich gerne weiterreichen möchte…