leere Seiten im Buch und „Wem erzähle ich, was?“
„X-MAL ANDERS“ steht für
die Vielfalt des Seins. Es steht für den Wunsch nach mehr Banalität im Unterschied.
Wir tragen das Buch und seine Botschaft in die Welt hinaus. Überglücklich konnte ich kürzlich vermelden, dass 150 Bücher verkauft wurden. Und weitere Exemplare wurden von mir verschenkt.
Manch einer mag sich bei der Durchsicht oder beim Lesen über die leeren, weißen Seiten gewundert haben. Einige Beiträge im „X-MAL ANDERS Ullrich-Turner-Syndrom! Ja, und?!“ – Buch werden nicht durch Fotografien ergänzt. Das hatte bei der einen oder anderen Berichtenden gesundheitliche oder finanzielle Gründe, die ein Zusammentreffen zum Fototermin verhinderten. Aber es ging auch um Anonymität. Frauen mit UTS wollen nicht damit in Verbindung gebracht werden.
Öfters wird mir versichert, dass Krümelie das Syndrom nicht anzusehen und eine Bekanntgabe der Information nicht nötig sei. Manch eine Stimme mag anbringen, dass ich meine Tochter einer möglichen Stigmatisierung aussetze. Mit der Preisgabe würde ich ihr also Schaden. Unwissenheit und unbedachte Äußerungen reduzieren Krümelie auch manchmal auf das UTS. Das gefällt mir auch nicht. Sie ist nämlich nicht trotz des Syndroms toll. Sie ist es mit ihm.
Das öffentliche Schreiben könnte den Eindruck erwecken, dass wir ständig das Turner-Syndrom, Anomalien, Einschränkungen und Anderssein thematisieren. Das tun wir nicht. Im Alltag nimmt es eine Außenseiterposition ein. Es steht ihr nun wirklich nicht auf die Stirn geschrieben. Und manche Fragen von Fremden auf dem Spielplatz zum Beispiel versiegen einfach im Sand.
Wir machen uns Gedanken über die Erziehung unserer Kinder. Wir tauschen uns aus und reflektieren. Und ein Faktor, der bei Erziehungsfragen bedacht wird, ist dann doch das Ullrich-Turner-Syndrom. Es gehört dazu. Punkt. Ein präsentes Beispiel ist der Umgang mit dem Mädchensein. Wir sind keine Fans von Produkten, die extra für Mädchen gemacht wurden und damit werben. Unsere Tochter interessiert sich aber mittlerweile immer mehr dafür. Und dann kommt der mütterliche UTS-Weitblick. Krümelie soll sich als Mädchen fühlen. Falls ihr später jemand diese Tatsache absprechen will, kann sie auf ihre Erfahrungen zurück greifen. Und da leistet so ein kleines rosa Ei plötzlich einen großen Beitrag.
Von diesen Überlegungen spürt Krümelie jedoch nur das Ergebnis und freut sich dann über ihr rosa Überraschung, was nur für Mädchen ist. Für Krümel wird ein übliches Ei gekauft. Das ist auch wichtig für sie. Gerechtigkeitssinn und Abgrenzung stehen dahinter.
Das UTS soll keine „zwielichtige Sache“ sein. Wie soll Krümelie das Syndrom annehmen, wenn wir nicht mal darüber sprechen? Sie muss sich nicht dafür verstecken. Hier auf dem Blog wird es natürlich thematisiert. Dafür ist er eben auch da. Es ist wichtig, dass wir (als Eltern) verstehen. Das wir das UTS annehmen und darüber sprechen. Untereinander. Mit anderen Menschen. Und in nicht allzu ferner Zukunft auch mit Krümelie und Krümel.
Jetzt kommt das große ABER: ABER nicht ständig. Ich betone nochmal, dass der Blog als Schwerpunkt das UTS hat und es deswegen häufig Erwähnung findet. Nicht weil es keine anderen Themen gäbe.
Ein weiterer Punkt in diesem Zusammenhang ist, dass ich als Mutter nur indirekt verstehen kann. Immerhin habe ich kein UTS. Ich werde nie 100% empfinden, wie es ist. Ich stelle mir vor, dass Gespräche darüber geringer werden bzw. unser offener Umgang eingeschränkter wird. Je älter Krümelie wird, desto mehr wird sie entscheiden, wie und wieviel wir darüber reden, welchen Personen sie davon erzählt oder nicht. Und manchmal wird es besser sein, nichts zu sagen. Und manchmal wird sie deswegen traurig sein. Ein Szenario: Krümelie, im Alter von 30 Jahren, erzählt ihrem „festen“ Freund davon. Er verlässt sie, weil er ohne die Möglichkeit auf Kinder keine Beziehung mehr möchte. Die Zukunftsmutter weint mit ihr bzw. hofft auf eine beste Freundin, die sie tröstet. Die Überlegungen bleiben, wann, wie, wem und warum erzähle ich was…
Krümelie wird mit der Tatsacheninformation aufwachsen. Sie wird hoffentlich Normalität spüren hinsichtlich ihres Chromosomensatzes. Da unsere Gesellschaft in den nächsten drei Jahren keinen radikalen Wandel erleben wird, habe auch ich den Plan, dass die UTS-Information nicht an die Schule weitergegeben werden soll. Ich will es nicht verschleiern. Ich will, dass die Lehrer*innen zuerst Krümelie kennen lernen und nicht im Vorfeld Schubladen-Denken einsetzt. In diesem Punkt ist mir ein „Sie ist toll trotz UTS“ lieber als ein „Sie hat UTS und muss zeigen, dass sie klasse ist.“.
Es ist traurig, dass ich mir überlegen muss, wem (grade in Bezug auf Systeme, die sich an Normen orientieren, wie die Schule) ich, was und wieviel mitteile. Die Verbindung Turner-Syndrom und Behinderung wird jedoch nie verschwinden, wenn sich kaum jemand dazu äußert. Verständnis und Akzeptanz sind das Ergebnis von Kenntnis.
In Zeiten der frühen Pränataldiagnostik äußere ich mich über UTS, weil ich nicht will das es ein Abtreibungsgrund ist. Ich schreibe öffentlich, weil es in das Bewusstsein der Menschen soll. Buch und Blog helfen dabei: „Ah, davon habe ich schon mal gehört. Ist nicht so schlimm.“, ist mir lieber als „Oh ein Syndrom. Also eine schwere, koboldhafte Behinderung.“.
Die weißen Seiten im Buch haben ihren Grund. Sie zeigen uns mehr als wir auf den ersten Blick erkennen.
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